Erzähle mir Dein Leben!
Das in Amerika entwickelte Konzept des „life - review“ (= Lebensrückschau) besagt, dass
viele Menschen mit zunehmendem Alter den Wunsch verspüren, sich längst verschüttet geglaubten Erlebnissen der Vergangenheit wieder anzunähern. Nicht selten ist es aber auch so, wie jüngst im Pfarrbüro bei einer älteren Dame erlebt, dass das Vergangene, lange Jahre und Jahrzehnte fein säuberlich abgelegt und verdrängt, mit starken Gefühlsbewegungen nach außen dringt.
„Damals in Laschkafeld...“, so fing die Erzählung einer heute … Jährigen an, die als Kind frühzeitig lernen musste, alleine zurechtzukommen. Als Kind elterliche Verantwortung für andere Geschwister tragen zu müssen in einem feindlich gesinnten Umfeld, ist eine Last, die Spuren hinterlassen muss.
Wir haben sicher viele solcher „Schätze“, die in den älteren Menschen unserer Pfarrei verborgen sind, Menschen, die als Donauschwaben, Sudetendeutsche oder andere Volksgruppen Demütigung und Vertreibung erlebt haben, denen die Heimat genommen wurde, die auf eine ungewisse Reise in die Zukunft geschickt wurden mit kaum mehr als der Habe, die sie tragen konnten.
Es sind die „Brandzeichen“ der Seele, die sich tief in unser Inneres, unser Erlebtes eingeprägt haben, die wir nicht wirklich wegzudrücken vermögen. Frühere Generationen hatten keine Entlastungsmöglichkeiten für erlittene Traumata, weil es z.B. nach dem Krieg galt, die überlebensnotwendige Aufbauarbeit zu leisten. „Seit mein Mann tot ist, denke ich an all das zurück, was ich in Laschkafeld (heute Ceminac, früheres Jugoslawien) erlebt habe“, sagt Frau X., wie eine Flasche, der der Korken gezogen wurde. Sie weint und Tränen fließen und der erste Impuls ist das eigene schlechte Gewissen, durch eine Rückfrage Anlass zu der Gefühlsregung gegeben zu haben. Andererseits: Was wären wir Menschen, junge und alte, ohne unsere Gefühle? Jede Träne mildert den Schmerz, den wir erleben und raubt ihm ein Stück seiner Macht, führt aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart, in das, was jetzt ist und macht uns zu den Menschen, die wir hier und heute sind. Sicher soll es nicht so sein, dass „der Geist der Vergangenheit“ vollständig Besitz von uns ergreift und wir nur noch im Gestern statt im Heute leben. Aber vielleicht will er uns etwas sagen?
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hilft dabei, sich mit
schwierigen Situationen des Älterwerdens auseinanderzusetzen und diese besser zu
bewältigen. So kann zumindest in Teilen eine rückwirkende Aussöhnung mit der Vergangenheit erfolgen: Die Diskrepanz, welche sich aus den Hoffnungen und Träumen der Jugend und dem tatsächlichen Verlauf des Lebens ergibt, wird aufgehoben. Mein Leben, das sind nicht nur Pläne und Visionen, aus denen angeblich nichts oder nicht viel geworden ist, mein Leben, das ist meine konkrete, persönliche Geschichte, die mit Orten, Menschen, mit Musik und Geruch, mit Gesichtern und Gefühlen verbunden ist.
Mit dem Alter, besonders bei Demenz, nimmt das Erinnerungsvermögen ab und oftmals kann
somit Biografiearbeit der Schlüssel zu noch vorhandenen Fähigkeiten sein, die es bewusst zu
fördern gilt, um sie noch möglichst lange zu erhalten.
Es ist wichtig, autobiografische Kompetenzen im Umgang mit älteren und alten Menschen zu fördern und wertzuschätzen, nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu bewahren, durch Aufschreiben, Mitschreiben, Mitschneiden usw. In den Geschichten der älteren Generationen liegen verborgene Schätze für die nachfolgenden. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichte ist heilsam für den Einzelnen: d.h. einzelne Geschichten sollen `wiederbelebt´ werden, um so ein ganzheitliches Verständnis der eigenen Biografie zu bekommen (ein treffendes Bild für „Auferstehung mitten im Leben“). Durch die positive Verarbeitung im Gespräch können Brüche, Widersprüche und Scheitern zu einer versöhnten Lebensgeschichte reifen. Gewonnene Erkenntnisse können so sinnvoll für die Zukunft genutzt werden und die Ressourcen in Erinnerung rufen, die ein Mensch im Lauf seines Lebens aus dem scheinbaren Nichts heraus bereits aufgebracht hat, um unerträglichste Lebenssituationen zu meistern.
Das aufrichtige Anschauen der eigenen Lebensgeschichte hilft, das eigene Gewordensein zu verstehen und die Gegenwart aufmerksamer und wacher zu betrachten. Die eigene Lebenserfahrung, und darin die Entdeckung unseres eigenen Potentials, sind Katalysatoren für unsere bewusste Entwicklung und Reifung. Denn der Mensch ist eigentlich nie fertig, er „wird“ immer.
Übrigens: Auch in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderung wird die Arbeit mit der eigenen Biografie bewusst eingesetzt. Dies erscheint sinnvoll, da charakteristische Züge, unverhoffte Reaktionen und Gewohnheiten so besser nach zu vollziehen sind.
Ein Beispiel: Ein Bewohner kontrolliert jede halbe Stunde ob seine Zimmertür abgesperrt ist,
da er die ersten 20 Jahren seines Lebens eingesperrt wurde...
M. Stutzenberger